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Graswürmli

Graswürmlein, Graswürmli, Graswurm

Graswürmli

In Kürze

Das Graswürmli oder Graswürmlein ist ein schwimmend in Fett gebackenes Gebäck, das von der Form her an eine Raupe erinnert. Es ist etwa fingergross und schmeckt nach Zimt.

Das Graswürmli wird heute nur noch im deutschfreiburgischen Jaun und an wenigen Orten im Kanton Bern hergestellt, normalerweise im Privathaushalt. Die Zeitung „Echo vom Jauntal“ vom 23.7.1998 bezeichnet das Berner Oberland zu Recht als die „Heimat“ des Graswürmli. Vor gut 200 Jahren war dieses Gebäck noch in weiten Teilen des Berner Herrschaftsgebietes verbreitet.. 

Der Ausdruck „Graswürmlein“ als Synonym für Raupe hingegen lässt sich schon über 1000 Jahre zurückverfolgen, wie die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch feststellten. Auch das Idiotikon, das schweizerdeutsche Wörterbuch, kennt als lebenden Graswurm ganz einfach eine Raupe (die oft grün sind und Wiesen heimsuchen), und so wird das Wort heute noch im Kanton Bern verwendet. Der Graswurm wurde aber etwa in Biel auch als Übername einer (grünen) Schmalspurbahn bekannt.

Beschreibung

Ein gerades, fingergrosses Gebäck von goldgelber Farbe, ca. 1 cm hoch, 8 cm lang mit Zimtgeschmack.

Zutaten

Eier, Butter, Zucker, Zimt oder Zitrone (Zesten davon), Rahm, Mehl, Salz, Backpulver, Kokosfett (für Friteuse)

Geschichte

Der Historiker François de Capitani zeigt in seinen Arbeiten, dass das in Butter gebackene Gebäck „Graswurm“ schon im alten Bern eine grosse Rolle spielte. Zum Backen wurde eingesottene Butter verwendet. Diese war in der Region mit traditioneller Milchwirtschaft reichlich vorhanden. Im Rezepten- und Menubuch der Familie von Sinner aus der Zeit von um 1800 findet sich eines der ältesten handschriftlichen Rezepte für Graswürme. Das einfache Gebäck muss sich damals grösster Beliebtheit erfreut haben, fehlt es doch kaum in einer Rezeptsammlung, bemerkt de Capitani.

Auch Lina Rytz führt in ihrem „Neuen Berner Kochbuch“ das Rezept in der Auflage von 1840 auf: Zucker, Eier, frische Butter, Rahm, Zesten einer Zitrone oder grob gestossener Zimt werden mit Mehl, so viel wie nötig, zu einem Teig verarbeitet. Der Teig wird ziemlich dünn "ausgetrölt" und dann schneidet man mit einem Rädchen Riemlein und backt sie in eingesottener Butter.

Gebäck in Fett auszubacken war noch im 19. Jahrhundert einfacher und weit verbreiteter als das Backen im Ofen da nicht jeder Haushalt über einen solchen verfügte. Für Fettgebackenes hingegen braucht man lediglich eine schwere, stabile Pfanne und eine Feuerstelle.

Das Idiotikon erwähnt, dass das Graswürmli früher auch in anderen Gegenden der Schweiz bekannt war. Wohl ist nicht genau nachzuvollziehen, wann das Produkt wo zu finden war. Doch erwähnt das Idiotikon, dass der Graswurm ein Festgebäck ist und zu Weihnachten und Neujahr im Bernbiet in Grindelwald und Saanen sowie im Simmental (auf beiden Seiten des Jaunpasses) hergestellt wurde. In Aarau kannte man den Begriff für ein Gebäck ebenso wie in Winterthur, doch dort war es der Name für ein Mandelkonfekt.

Eine volkskundliche Publikation aus dem Jahre 1933 berichtet, dass am Altjahrsabend im Saanenland Graswürmer, Ankenbrot, Züpfe (Zopf), Tirggeli (Tirggel), Brätzlene (Bretzel) und Waffeln genossen werden. Der Schweizer Brotforscher Max Währen bestätigt diesen Brauch in einem Artikel aus dem Jahre 1951. Die Bewohner und Bewohnerinnen von Grindelwald assen damals Graswürmer während der Fasnacht, die Lauener eher an den Alpfesten.

Im freiburgischen Jaun (mit dem Ortsteil Im Fang die einzige deutschsprachige Gemeinde im französischsprachigen Greyerzerbezirk) ist das Graswürmli seit Jahrzehnten das typische Chilbi-Gebäck. Dass es dort vorhanden ist, meldet schon der Atlas der Schweizer Volkskunde, eine Arbeit aus den 1930er Jahren. Dort wird hervorgehoben, dass „Graswürm“ im Bernischen ein „häusliches Gebäck“ sind, also nicht vom Konditor oder Bäcker hergestellt werden.

Die Erinnerungen der besuchten Produzentin in Jaun reichen gut 50 Jahre zurück: „Als ich Kind war, machten die Frauen die Graswürmleni etwa eine Woche vor der Jauner Chilbi. In meiner Familie, wir waren zehn Kinder, galten sie als Leckerbissen. Etwa am 1. August gab es die Graswürmleni zum Znüni, zusammen mit Brätzeli und Chüechli. Meine Mutter backte immer so viel, dass acht Eier reichten.“ Sie, die selber schon Grossmutter ist, erinnert sich, dass schon ihre Grossmutter nach dem gleichen Rezept Graswürmli gebacken hat. 

Bis vor gut 20 Jahren wurde das Graswürmli nur im Privathaushalt gebacken. In den 1980er Jahren haben sich der Ehemann der besuchten Produzentin, ein Bäcker, und die Produzentin, die das Lebensmittelgeschäft des Dorfes führt, auf Drängen der Kundschaft entschlossen, das Graswürmli ins Ladensortiment aufzunehmen.

Produktion

Die Produktion findet an zwei Orten statt, sie beginnt beim Bäcker in der Backstube mit der Herstellung eines Teigs. Er gibt Eier, Butter, Zucker, Rahm, Zimt, Backpulver und Salz in die Knetmaschine. Das Mehl fügt er nach und nach zu, bis sich die Masse von der Rührschüssel löst. Den fertigen Teig lässt er kurze Zeit ruhen.

Etwa drei Stunden später stehen die Produzentinnen in einem Arbeitsraum auf der anderen Seite der Strasse bereit. Normalerweise sind es vier Frauen, die sich die Arbeit aufteilen: Zwei wallen den Teig auf etwa drei Millimeter aus und schneiden mit einem Rädchen den Teig in ca. fünf bis acht Zentimeter langen Streifen. Der einzelne Streifen hat etwa die Länge eines Fingers. Die beiden anderen Frauen stehen bei der grossen Friteuse. Die eine legt die Teigstreifen vorsichtig in das Gitter und die zweite gibt dieses dann ins flüssige Kokosfett. Ist die eine Seite des Graswürmli goldgelb, nimmt eine der Frauen das Gitter aus dem Fett und dreht die Graswürmleni um, das Gitter kommt noch einmal ins Fett, beide Seiten des Gebäcks müssen goldfarbig sein. Die fertig gebackenen Graswürmleni geben die Produzentinnen auf ein Leintuch zum Abkühlen. Danach werden sie in durchsichtige Beutel verpackt. 

Die besuchte Produzentin und ihre Kolleginnen verarbeiten pro Jahr 720 Eier. In den meisten vorhandenen Rezepten wird die Mehlmenge nicht präzise angegeben, sondern Mehl wird immer „bis es genug ist“ beigegeben. In etwa könnte es sich um 90 Kilogramm Mehl handeln, nimmt man die Angaben des Rezepts der Publikation der Freiburger Landfrauen aus dem Jahre 2008 (3. Auflage) bei der Schätzung zu Hilfe. Von Juni bis Juli stellen die Frauen an insgesamt sechs Nachmittagen Graswürmleni her.

Ein allgemeingültiges Rezept existiert auch in diesem Dorf nicht, viele Familien haben ihr eigenes Familienrezept. Zwei Jaunerinnen diskutieren ein vorgelegtes Rezept: „Ja, genau, Rahm gebe ich auch dazu.“ Die zweite Frau: „Nein, im Rezept meiner Familie hat es keinen Rahm.“

Konsum

Die Chilbi in Jaun findet alljährlich am Sonntag vor dem letzten Julimontag statt. Das Fest beginnt schon am Vorabend. Unter dem ehemaligen Kirchweihfest versteht man heute ein Tanzfest, an dem auch all die guten Kilbi-Spezialitäten wie Chüechli, Brätzeli und Graswürmleni genossen werden. Noch immer wird das Graswürmli in einigen Familien kurz vor der Chilbi privat gebacken, berichtet eine Informantin aus Jaun. Sie selbst und ihre Schwiegertöchter pflegen den Brauch weiterhin.

Bis vor wenigen Jahren konnte man das Graswürmli auch im Herbst, an der Schafscheid, probieren. Sie findet jedes Jahr am Montag nach dem Eidgenössischen Bettag statt. An diesem Tag bringen die Hirten ihre Schafe von der Alp ins Dorf, wo sie verkauft werden. In den letzten Jahren hat sich der Markt um verschiedene Stände erweitert. Hier waren es die Landfrauen, die für diesen Anlass Graswürmli backten. Im Herbst 2008 war diese Jauner Spezialität nicht mehr auf dem Markt anzutreffen, die Landfrauen finden kaum jemanden mehr, der sich die Zeit nimmt, um grosse Mengen an Graswürmleni zu backen. 

Beim besuchten Produzentenpaar sind die Graswürmleni üblicherweise von Ende Juni bis Ende Juli erhältlich. Die Produzentin empfiehlt die Graswürmleni zum Dessert oder zum Kaffee zu nehmen. Es ist ein eher trockenes Gebäck. Es hält an einem trockenen Ort gut zwei Monate.

Wirtschaftliche Bedeutung

Das besuchte Produzentenpaar führt die Graswürmleni nur zur Zeit der Chilbi, während ca. sechs Wochen. „Der Aufwand, Graswürmleni zu machen, ist gross, verdienen tun wir praktisch nichts daran“, erklärt die Produzentin. Für die Jauner sind die Graswürmleni gleich wichtig wie die Cuchaule und die Mussarda, der Chilbisenf, der in der französischsprachigen Schweiz als „Moutarde de Bénichon“ bekannt ist, berichtet die befragte Produzentin. Das Produkt ist aber auch bei Auswärtigen sehr beliebt: „Die Hälfte der jährlichen Produktion wird von den Auswärtigen gekauft“. 

Im Jahre 2008 kosten 500 Gramm Graswürmleni bei der Produzentin CHF 11.-.

... anderes

Die Chilbi war in früheren Zeiten der weitaus grösste gesellschaftliche Anlass des Jahres in Jaun, der auch kulinarisch begangen wurde. Sie begann mit dem Chilbi-Zmorge (Ggüschola, Ooche u Mussarda). Am Nachmittag wurde zum Chilbimenu eingeladen, das in Jaun immer etwas einfacher war als im übrigen Kanton. Es besteht  aus einem Gang mit "Chabissuppe, Homa, Chabis, Gäubrüebi" dann "Ggaffi, Chüechleni, Bräzeleni u Graswürmleni".

Literatur

  • Atlas der schweizerischen Volkskunde,   Weiss, Richard und Paul Geiger,   Basel,   1950.  
  • Währen, Max,   Gesammelte Aufsätze zur Brot- und Gebäckkunde und -geschichte. 1940-1999,   Deutsches Brotmuseum Ulm (Dr. Hermann Eiselen),   Ulm,   2000.  
  • Gschwind, Rosina Maria,   550 Rezepte von Frau Pfarrer Gschwind,   Christkatholischer Medienverlag,   Basel,   2005.  
  • Brodmann-Jerosch, H.,   Schweizer Volksleben. Sitten, Bräuche, Wohnstätten. Band 2,   Eugen Rentsch Verlag,   Erlenbach,   1933.  
  • Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache,   Staub, Friedrich et al..  
  • Rytz, Lina,   Neues Berner Kochbuch,   Bern,   1840.  
  • Eigeständigi Choscht. Eine kulinarische Rundreise,   Regionaljournal Bern, Freiburg und Wallis,   Bern,   1989.  
  • De Capitani, François,   Festliches Essen und Trinken im alten Bern,   Benteli Verlag,   Bern,   1982.  
  • Greyerz, Otto von und Ruth Bietenhard,   Berndeutsches Wörterbuch. Für die heutigen Mundart zwischen Burgdorf, Lyss und Thun,   Muri bei Bern,   1997.  
  • Neues Familien-Kochbuch.  
  • Aebischer, Walter, de Capitani, François,   Kochen wie im alten Bern,   Stämpfli Verlag AG,   Bern,   2008.  
  • Anderegg, Jean-Pierre, Boschung, Moritz, u.a.<BR />,   Jaun im Greyerzerland. Sonderdruck aus,   Freiburg Deutschfreiburger Heimatkundeverein,   Freiburg,   1989.  
  • Grimm, Jacob, Grimm, Wilhelm,   Deutsches Wörterbuch,   Preussische Akademie der Wissenschaften,   Leipzig,   1941.  
  • Freiburger Bäuerinnen- und Landfrauenverband,   Freiburger Bäuerinnen und Landfrauen kochen. 241 Rezepte laden ein zu einem kulinarischen Spaziergang durch das Freiburgerland,   Redaktion Landfrauen kochen,   Hüningen,   2008.  
  • Echo vom Jauntal,   Jaun,   23.7.1998.  
Konditorei- und Backwaren Drücken

Produktionsepizentrum

Jaun (FR), BE

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